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Wo ist Markus? fragte ich die sympathische Verkäuferin an der Theke. Sie zuckte mit den Schultern und meinte: Wenn er nicht hier ist, dann ist er wahrscheinlich im «Werk 2». Man muss wissen, dass dieses kleine Brockenhaus in einem winzigen Weiler mitten auf dem Lande im Hinterthurgau eigentlich ein Bauernhof war, bestehend aus mehreren Wohnhäusern, Schuppen und Lagerräumen. Ich ging also eine kurze Gasse hinunter, beidseitig vollgestellt mit Blumentöpfen und Kisten aller Art, Farben und Grössen zusammen mit einer Unzahl anderer Utensilien, die man gut im Freien aufbewahren kann. Die Gasse öffnete sich zu einem geräumigen Parkplatz, auf dem rundherum Gartenplatten, Eisengitter, Gartenmöbel und grosse Fässer für die sauber getrennte Entsorgung Platz gefunden haben. Nichts liegt einfach herum, alles hat hier seine Ordnung.
Den Eingang zum «Werk 2» könnte man eventuell übersehen, wenn man nicht wüsste, wo es durchgeht. Er führt in einen zweistöckigen fensterlosen Lagerraum, der von zahlreichen Neonröhren erhellt wird. Im unteren Raum war niemand, also ging ich die breite Holztreppe hoch. Markus Ruckstuhl war da, ein rüstiger, agiler Mann, den man jünger schätzen würde. Anlässlich meiner zahlreichen Besuche in seinem Brockenhaus kenne ich ihn seit vielen Jahren. Zusammen mit seiner charmanten Frau Hildegard hat er dieses Brockenhaus eingerichtet und lange vor den anderen dieses Geschäft auf einen Level gehoben, der weit entfernt ist von dem schmuddelig staubigen Mief und Chaos, der einem früher den Besuch in anderen Brockenhäusern vermieste.
Die Kundschaft dankt es ihm und hält ihm bis heute die Treue, obwohl die Konkurrenz aufgeholt hat. Ich habe schnell gemerkt, dass man gewisse Dinge in gepflegter Qualität eben nur hier findet. Dank seinen Besuchen bei Kunden scheint Markus zumindest im Hinterthurgau und darüber hinaus unzählige Leute zu kennen, mit denen er einen vertrauten Umgang hat. So hat er oft Gelegenheit an echte Raritäten zu kommen, die man sonst fast nirgendwo findet. Seit ich pensioniert bin, habe ich Markus noch besser kennen und schätzen gelernt. Ich schätze sein Vertrauen, das er mir entgegenbringt und wir konnten uns gegenseitig schon manch guten Dienst erweisen.
Aber die aktuellen Herausforderungen unserer Zeit sind auch an ihm nicht spurlos vorbeigegangen. Schon lange hat er sich darüber Gedanken gemacht, wie es wohl für ihn, seine Frau und das Brockenhaus weitergehen könne. Markus begrüsste mich in diesem oberen Stockwerk, das mir schon etwas verwandelt vorkam. Waren hier früher neben Bildern, Schildern und Figuren meist Tische, Bänke, Stühle, Kommoden und Schränke untergebracht, hat in diesem Raum eine seltsame Verwandlung stattgefunden. Er war offener und lichter geworden, einiges musste weichen, was hier nicht mehr erwünscht war, aber ich verstand nicht ganz, was er damit eigentlich wollte.
Es solle ein spezieller Raum werden, in den nicht alle Zugang hätten, deshalb habe er auch eine Gittertüre am Ende der Treppen angebracht. Ich fühlte mich schon geehrt, dass er mir Einlass gewährte. Ich trat ein und schaute mich um. Einiges kam mir noch bekannt vor, anderes hatte ich noch nie gesehen. Mir fielen zwei Bilder auf, die mir neu waren. Eines gefiel mir so sehr, dass ich es Markus am liebsten abgekauft hätte. Aber da war nichts zu machen. Allmählich dämmerte es mir, wohin die Reise ging. Ich nahm ein Bild mit, aber nur um es zu reinigen. Als ich es wieder zurückbrachte, fand ich Markus wieder in dem besagten Raum. Er war nicht allein, ein Bekannter von ihm mit deutschem Akzent durfte sich umschauen und seinen fachmännischen Rat zu etwas abgeben, was für seinen Gesprächspartner interessant schien.
Als ich mich selber weiter umschaute, waren drei oder gar vier wunderschöne alte Kinderautos nicht zu übersehen, ein Traum für jede Buben- oder Mädchenseele. Bei meinen nächsten Besuchen füllte sich dieser Raum mit Spielzeugeisenbahnen von exquisiten Marken verschiedener Spur und Grösse. Zwei rote Pfeile, grössere und kleinere Krokodil- Rangier- und Schnellzuglokomotiven machten sich neben einer Unzahl von farbigen Güter- und eleganten Personenwagen den Platz auf zwei riesigen Gestellen streitig. Dazu kam rares Blech- und Holzspielzeug, Autos und Lastwagen in allen Grössen, alles aus dem letzten Jahrhundert. Daneben standen Schaufensterpuppen in Kinder- und Erwachsenengrösse, ein riesiger Weihnachtsmann in warmen Stiefeln mit einer Glocke in der Hand, der Weihnachtsbaum an seiner Seite durfte nicht fehlen.
Erst nachdem Markus mir erlaubt hatte, mit meiner Kamera Fotos in diesem Raum zu machen, entdeckte ich noch mehr von diesen kleinen, wundersamen Dingen. Drei uralte aufeinandergeschichtete Reisekoffer, die jeden Theaterrequisiteur neidisch machen würden. Alte Lampen, Laternen, zwei Karusselle mit Tieren oder Gondeln, eine hohe Bahnhofsuhr in einem Holzkasten, alte Bierflaschen und Humpen auf gedeckten Tischen, prächtige Emailschilder und seltene Plakate, knallig farbige Büchsen mit bekannten Emblemen von Erdölfirmen, aufgereiht neben Kanistern, Kannen und anderen Gebinden. Sogar eine schwere eiserne Christusfigur ohne Kreuz fand ich. Daneben gab es noch einige geheimnisvolle Ecken, wo noch nicht alles mit dem bewundernswerten Gefühl für passende Arrangements von Markus geordnet war.
Bei jedem meiner Besuche schienen seine Augen mehr zu leuchten. Ja, das ist mein «Baby», bestätigte er mir. Aber, wer soll es denn überhaupt sehen? Das war mir eigentlich schon klar. Ich glaube nicht, dass er an ein Museum dachte. Es sollte ein Ort sein, wo sich Leute, die ihm wichtig sind, an Dingen erfreuen können, die er zu diesem reizvollen Ensemble zusammengetragen hatte. Es ist ein magischer Ort, wo man sich in die Träume der Kindheit und Jugend zurückversetzen kann. Träume, die nie ganz verblasst sind, denn, was man damals entbehren musste, hat man nie ganz vergessen, hat es in Erinnerung behalten, wie einen kostbaren Schatz gehütet, während man sich durch die Stürme des Lebens kämpfen musste.
Ich bin sicher, dass Markus dieses Kabinett gerne mit anderen teilen wird. Wenn man ihn höflich danach fragt, wird er sicher bereit sein dieses geheimnisvolle Gittertor zu öffnen und den Besuchern, denen er vertraut, Einlass in das Land seiner Kinderträume gewähren. Wie das so ist in Träumen, können da Dinge geschehen, die nicht ganz real sind aber doch auf wundersame Weise der Fantasie entspringen, denn dort gibt es keine Grenzen für solche Hirngespinste. So lassen wir nun der Fantasie ihren freien Lauf.
Es ist schon fast Mitternacht, die Gittertüre ist verschlossen. Kein Licht brennt. Es ist fast stockdunkel in diesem Raum, nur fahles Mondlicht dringt durch ein paar Ritzen, nichts regt sich. Von fern ertönt eine Kirchenglocke, zwölf Uhr. Max, der grössere Junge, beginnt sich langsam aus seiner Starre zu lösen. Er ist müde vom langen Stehen, achtet aber listig darauf, dass er die anderen nicht aufweckt, denn in dieser Nacht möchte er endlich einmal ungestört alleine spielen können, ohne den quengelnden kleinen Bruder oder das schmachtende Mädchen, das sich hinter ihrer adretten Mutter im schicken Overall versteckt und immer wie eine Klette an ihm hänge, wie Max meint.
Doch vergebens, der kleine Bruder ist auch schon aufgewacht und beginnt sich seinerseits zu strecken und lockern. Die eigene Mutter im Strohhut und Bauerntracht hat sich noch nicht bewegt, denn erwachsene Puppen brauchen in Träumen etwas länger zum Aufwachen. Aber auf der anderen Seite hört er schon das unverwechselbare Gekicher von Lisbeth. Sie also auch! Aber da ist nichts zu machen. Wenn es denn sein muss! Er zündet die Kerze an, die er immer in seiner Tasche hat. Hol die Petrollampe, damit wir mehr Licht haben, Martin und du kannst den Tisch decken, Lisbeth!
Wenigstens will er klar machen, wer hier der Chef ist. Die beiden tun, was er ihnen geheissen hat. Max zündet die Petrollampe an und die drei machen es sich am Tisch gemütlich. Nikolaus ist zwar noch in seinem tiefen Dämmerschlaf, aber sein Sack ist gefüllt mit Leckereien, die auf dem Tisch ausgeschüttet werden. Die drei machen sich darüber her, lassen aber noch etwas für die Erwachsenen übrig. Heute spielen wir mit dem ganz grossen Zug auf dem Kasten, schlägt Martin vor. - Aber der ist doch viel zu schwer, da kommen wir nicht ran, meint Max etwas hochtrabend. - Gut, dann nehmen wir die Krokodillokomotive mit den Güterwagen, lenkt Max ein. - Achtung, wir haben ja ganz vergessen die Bahnhofsuhr aufzuziehen. Wenn die nicht mehr tickt, ist unsere Zeit schon abgelaufen ist, wirft Lisbeth ein.
Du hast recht, entgegnet Max ganz erschrocken. Aber man muss immer aufpassen mit diesem Biest, wenn man es aufzieht. Aber ich mach das schon. Genau um Mitternacht hat sich nämlich auch die Bahnhofsuhr in Bewegung gesetzt. Das tut sie ganz selbständig, aber wenn man sie nicht aufzieht, dann wäre der Zauber schnell vorbei. Max öffnet den Kasten nimmt die Kurbel und beginnt vorsichtig die Uhr aufzuziehen. Aber irgendetwas klemmt, er bringt die Kurbel nicht mehr los. Max probiert es mit aller Kraft aber die Kurbel sitzt fest. Die Uhr bleibt stehen, schon spüren die Kinder, wie die lähmende Erstarrung wieder in ihren Gliedern emporkriecht. Lass mich machen, du darfst da nicht würgen, schreit Lisbeth aufgeregt und mit ihren geschickten Händen kann sie die Kurbel lösen und das schwere Pendel setzt sich wieder in Bewegung. Gleich sind sie wieder quicklebendig.
Nun habe ich aber einen Wunsch frei, feixt Lisbeth ganz überlegen. Ja, meinetwegen, lenkt Max ein, aber mit Puppen spiele ich nicht. Aber wir könnten doch mit den Karussellen Reitschule machen. Gut, stimmt Max ihr bei, aber nicht lange. Martin wird gar nicht gefragt. Aber mit den Karussellen ist das so eine Sache, die sind noch nicht ganz auf Vordermann gebracht worden. Max und Lisbeth versuchen es, aber die Karusselle sind irgendwie festgefahren und lassen sich kaum drehen. So macht das wirklich keinen Spass, muss auch Lisbeth zugeben. Aber wo ist Martin? Laute, kindlich nachgeahmte Motorengeräusche bringen die zwei schnell auf seine Spur. Er hat sich in eines der Kinderautos gesetzt und tritt dort heftig in die Pedalen. Mit gehörigem Tempo rast er durch den Raum, wobei er immer mal wieder irgendwo anstösst.
Komm, wir machen ein Wettrennen, fordert er Max auf. Dabei stösst er krachend in die Tanksäule, die bedenklich ins Wanken gerät. – Hör auf damit! schreit Max und Lisbeth fängt geschickt das wankende Velo auf, das Martin eben gerammt hat. Max und Lisbeth sind schon zu gross für diese Autos. Alleine ist es auch für Martin nicht lustig, zudem hat ihn der Weihnachtsmann ziemlich böse angeschaut, als er ihm über die Stiefel gefahren ist. Mit dem wollen es sich die Kinder nicht verderben. Zu gut kennen sie seine polternde Stimme und der leere Sack hat ja auch noch einen anderen Zweck. Das Auto wird wieder hingestellt. Dafür nimmt Max den Militärjeep vom Gestell. Lisbeth schnappt sich den Oldtimer mit der schicken Fahrerin. und stellt sich ihm in den Weg. Typisch Frau am Steuer, frotzelt Max als er in sie hineindonnert.
Aber Martin, kannst du denn nie etwas Vernünftiges machen? Dieser hat nämlich den «WisaGloria» Holzlastwagen vom Gestell genommen, sich darauf gesetzt und gibt mit seinen kurzen Beinen tüchtig an um genügend Anlauf für die nächste Kollision zu haben. So geht das weiter. Martin reitet wie wild auf dem bockigen Schaukelpferd, Max dreht eine gewagte Runde mit dem Militärvelo und Lisbeth hat das Dreirad für sich in Beschlag genommen. Alles wird ausprobiert und schon bald gibt es ein heilloses Durcheinander. Zuletzt machen sie sich über die Eisenbahnen her, die schon etwas ungeduldig gewartet haben, bis sie endlich an der Reihe sind. Aber bitte nicht so wild, mahnt der Lokführer der grossen rotbraunen Krokodillokomotive. Aber zu spät, der ungestüme Martin kann sie nicht richtig halten, als er sie auf Zehenspitzen vom Gestell nimmt und schon fällt das edle Stück zu Boden.
Nichts passiert! versucht er zu beruhigen. - Von wegen, du «Gstabi», der Stromabnehmer ist ganz verbogen, ein Wunder, dass nicht mehr kaputt ist, schimpft Max. Was sollen wir jetzt machen? Langsam wird ihnen klar, dass sie die ganze Unordnung nicht mehr aufräumen können, denn sie haben keine Ahnung, wo alles hingehört. Eine schöne Bescherung, meint der Weihnachtsmann, der nun endlich erwacht ist und bedenklich mit den Augen rollt. He, du Rabauke! Ja, du Martin! Mir tun die Füsse immer noch weh. Kannst du nicht etwas Rücksicht nehmen, wenn du herumtobst? – Oh je, was habt ihr da angerichtet? ertönt eine sanfte Stimme. Es ist die Mutter von Max und Martin, der nun auch wieder Leben eingehaucht worden ist.
Zusammen mit Lisbeths Mutter im Overall wird das ganze Durcheinander stirnrunzelnd begutachtet. Ohne lange Strafpredigt beginnen die Mütter zusammen wieder Ordnung zu schaffen und die Sachen dort hinzustellen, wo sie hingehören. Die Kinder helfen mit, so gut sie können. Nur der verbogene Stromabnehmer der Lokomotive gibt ihnen zu denken. Der Weihnachtsmann schüttelt den Kopf. Ich bringe zwar die Geschenke, aber flicken kann ich sie nicht. Dafür bin ich nicht verantwortlich. Fragt doch einmal die Madonna, die ist für Wunder zuständig. Tatsächlich, der sanfte Blick dieser erhabenen Figur genügt schon um den Schaden zu beheben. Die Kinder sind ganz erleichtert. Noch bevor ihre Zeit abgelaufen ist, setzen sich alle gemeinsam an den Tisch und machen sich über die Reste der Gaben von Nikolaus her. Dieser zwinkert ihnen ganz verschmitzt zu. Nachher begeben sie sich wieder an ihre Standorte und als die Kirchturmglocke drei Uhr schlägt, ist der ganze Spuk vorbei. Die Bahnhofsuhr bleibt stehen. Ruhe kehrt ein, alles ist wieder still und starr in tiefem Schlaf und wartet auf die nächste Vollmondnacht.
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