https://www.my-b-r.ch/angebote-im-verkauf/rarit%C3%A4ten
Die beiden kleinen Mädchen kreischen vor Vergnügen im Leiterwagen, als sie der ältere Bruder wie ein wildes Pferd im Galopp über den grossen Platz vor der Scheune zieht, in rasanten Kurven mal auf die eine oder andere Seite schleudert. Das fröhliche Geschrei klingt weit über den Hof zur Mutter hin, die im Garten von ihrer Arbeit aufblickt, den Bruder zur Vorsicht gemahnt. Doch dieser scheint nichts zu hören, hält nicht inne in seinem wilden Treiben, lässt sich von den anderen Geschwistern auf dem Hof gar noch weiter anfeuern. Die blauen Augen der Zwillinge strahlen, die roten Pausbacken glühen, ihre flachsblonden Haare flattern im Fahrtwind, sie können nicht genug bekommen von der holprigen Raserei.
Doch es kommt, wie es kommen muss, in einer allzu eng gezogenen Kurve kippt der Leiterwagen auf die Seite und die Zwillinge landen auf dem staubigen Hof, noch halb eingeklemmt zwischen den Streben des gekenterten Gefährts. Aus dem fröhlichen Gekreisch wird ein wildes Geheul, Zeter und Mordio. Die Mutter stürzt händeringend herbei, auch der Vater kommt aus der Scheune gerannt. Zusammen stellen sie den Leiterwagen wieder auf seine vier Räder, heben die beiden Mädchen aus ihren Sitzen, versuchen sie zu beruhigen.
Ausser ein paar Schrammen ist nichts passiert, das Geheul der Schiffbrüchigen verstummt, doch das wilde Zugpferd muss mit gesenktem Kopf ganz zerknirscht das Donnerwetter des Vaters über sich ergehen lassen und trottet verschämt in Richtung Scheune, wo eine Strafarbeit auf ihn wartet. Auch die anderen Geschwister werden nicht verschont. Für heute ist Schluss mit Allotria, meint der gestrenge Vater und schon bald sieht man auf dem Hof ein emsiges Treiben. Kleine Helfer, an ihre Pflicht gemahnt. Der Leiterwagen wird in eine Ecke neben der Hundehütte geschoben, wo er gelassen auf einen neuen Einsatz wartet.
Der kleine Unfall konnte dem solide gebauten Gefährt kaum etwas anhaben. Ein wahres Meisterwerk der Wagnerkunst, extra gebaut als Zwillingsleiterwagen. Ein Spezialauftrag in handwerklicher Präzision ausgeführt. Zierlich gedrechselte Gitterstreben, präzise Holzverzapfungen, zwei bequeme Sitzlehnen auf beiden Seiten, die beiden Sitzflächen mit genügend Abstand vom Fussbrett in der Mitte, auf dem die Kinder ihre Füsse mit reichlich Freiraum für die Beine abstellen können. Nicht zu vergessen die auf beiden Seiten angebrachten Querleisten vorne an den Sitzen, die gelöst werden konnten, um den Kindern ein bequemes Einsteigen zu ermöglichen. Zum Schutz der Passagiere wurden diese Querleisten mit ebenfalls gedrechselten Stiften fixiert.
Ein solide verbauter Lenkkopf bei der Vorderachse, eine elegant geschwungene Deichsel, die in einem T-förmigen Handgriff endet. Die Räder sind eisenbereift und mit geschmiedeten eisernen Stiften an den Achsen befestigt. Auch die schön geschwungenen Speichen sind unter den Händen eines geschickten Drechslers entstanden. Da die Vorderräder etwas kleiner sind als die Hinterräder, sind enge Kurven möglich, die in wilder Fahrt nicht ganz folgenlos sein können. Aber die kleinen Zwillingsmädchen sind ja längst erwachsen, der ungestüme Bruder ein gesetzter älterer Herr, der es nicht wagen würde seine Enkelkinder in rasanter Fahrt im Bollerwagen hin und her zu schleudern. Anstelle der alten Scheune mit dem geräumigen Hof steht jetzt ein Mehrfamilienhaus mit Tiefgarage. Der Zwillingsleiterwagen ist heute eine rare Antiquität, der als attraktiver Hingucker im behaglichen Wohnzimmer eine neue Karriere gestartet hat und dabei etwas wehmütig von den stürmischen Erlebnissen in seiner Jugendzeit träumt.