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Das schlanke Pferd zieht den einachsigen Holzkarren im flotten Schritt über eine schmale Landstrasse. Davor sieht man den Rand eines Feldes mit reifem Korn, dahinter erstreckt sich eine schon abgeerntete etwas ausgedorrte Ebene, die in eine bläuliche Hügelkette übergeht. Auf der rechten Seite nur angedeutet ein oder zwei Gebäude am Rand eines Wäldchens. Ganz links etwas im Hintergrund, kaum mehr sichtbar ein anderer Weiler, ebenfalls von Bäumen umgeben. Der Karren hat riesige, eisenbereifte Holzräder und schräge, knapp brusthohe Seitenwände. Das Pferd ist an langen Deichseln angespannt. Zwei Männer in blauer Arbeitskleidung stehen sich auf dem leeren Karren gegenüber, angelehnt an die beiden Seitenwände. Einer hält die Zügel in der Hand, während der andere sich ihm gegenüber entspannt an der Seitenwand festhält, so gut es bei einer holprigen Fahrt über die Landstrasse eben geht.
Aufgefallen ist mir die Jahreszahl 2000 unter der Signatur. Ein Hinweis, dass wir uns in Südeuropa befinden könnten, denn bei uns sieht man solche Wagen schon längst nicht mehr. Geo Bretscher muss das Bild also im hohen Alter gemalt haben. Ob er da noch auf Reisen in den Süden unterwegs war, ist aus den wenigen Angaben über ihn nicht ersichtlich. Es könnte sich aber auch um eine vage Erinnerung an eine Zeit handeln, wo er das selber noch sehen konnte vor vielen Jahren in seiner Kindheit. Dazu passt auch die Unschärfe in diesem Bild. Die Landschaft, die Weiler mit ihren Häusern, das Pferd und der Wagen mit seinen beiden Passagieren, alles erscheint so, als würde man es halb geblendet mit zugekniffenen Augen anschauen. Auf den Bildern von Geo Bretscher, die im Internet zu finden sind, gibt es auch einige aus ländliche Gegenden mit einzelnen Bauernhäusern und Dörfern. Bei einigen kann man unschwer mutmassen aus welchen Regionen unseres Landes sie stammen könnten, einige wohl aus der Umgebung von Winterthur, andere aus dem Jura oder dem Toggenburg. Wenn ich diese Bilder mit meinem vergleiche, hat keines diese merkwürdige Unschärfe, die wie eine verblassende Erinnerung anmutet.
Meine Kindheit erlebte ich selber in den Sechzigerjahren in einem kleinen Dorf, wo die Bauern noch Pferde als Zugtiere hatten und ich kann mich vage daran erinnern, wie ich als kleiner Junge gelegentlich mitfahren durfte auf einem Holperwagen von einem oder meist zwei Pferden gezogen. Ich genoss diese Fahrten ohne Lärm und Abgase der Traktoren, die damals langsam die Pferde verdrängten. Als Bretscher noch ein Kind war, gab es auf dem Land sicher noch keine Traktoren. Die Pferdefuhrwerke und Kutschen begegneten auf den Landstrassen nur selten einem der Autos, die sich nur die Wohlhabendsten leisten konnten. Wer kein Pferd besass, war auf den Landstrassen zu Fuss oder mit dem Fahrrad unterwegs. Der Künstler wuchs aber in Winterthur auf, das auch damals schon nicht mehr ländlich, sondern eine bedeutende Industriestadt war mit Fabriken und bescheidenen Arbeitervierteln neben den vornehmen Villenquartieren der Fabrikanten.
Die Umgebung war aber noch ländlich geprägt, so dass Bretscher solche Szenen bei Ausflügen aufs Land erlebt haben könnte. Vielleicht hat er im hohen Alter dieses besondere Bild gemalt, das ihn in die Erinnerungen an seine Kindheit eintauchen liess.
Anhand der wenigen Angaben über seinen Lebenslauf weiss ich, dass ihm in seiner Jugend beim Austragen von Zeitungen gelegentlich Einblick in die Kunstsammlungen von Winterthurer Mäzenen gewährt wurde. Vielleicht hat ihn das so stark inspiriert, dass er selber Maler werden wollte. Den ersten Malunterricht habe er bei einem Adolf Bretscher erhalten. Es ist nicht klar, ob das ein Verwandter von ihm war. Ab dem 16. Lebensjahr soll er sich als Autodidakt auf vielen Reisen in die Nachbarländer weitergebildet haben. Erst 1970 liess er sich als freischaffender Künstler nieder und bezog 1974 sein eigenes Atelier in Winterthur. Bekannt sind neben Ölbildern und Aquarellen vor allem seine Lithografien, die man noch oft auf verschiedenen Verkaufsplattformen findet.
Quellen: Künstlergruppe Winterthur, Sikart