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He, hältst du deine Flöte nicht falsch rum? rief ihm der Hirtenjunge zu, als er den seltsamen Besucher rittlings auf einem fremdartigen Tier erblickte, das er zuerst für eine Ziege hielt. Aber seinen Ziegen, glich dieses nicht wirklich, denn derart kräftige Hörner und so lange Mähnen an der Kehle und an den Oberschenkeln der Vorderbeine hatte der Junge noch bei keiner Ziege gesehen. Dass der Reiter verkehrt herum auf dem Tier sass wunderte ihn nicht so sehr, wie die haarigen Ziegenbeine, die aus seinen Hüften gewachsen waren. Zudem war der Reiter mit der Panflöte völlig unbekleidet und schien sich deswegen überhaupt nicht zu genieren.
Das ist schon richtig so. Was verstehst du schon davon? entgegnete der wunderliche Reiter. Weisst du überhaupt, wer ich bin? Keine Ahnung, ist mir auch egal, antwortete der Hirtenjunge keck. Du könntest dir wenigstens eine Badehose anziehen. Der verkehrte Reiter antwortete nicht, kniff sein linkes Auge zu und begann stattdessen auf seiner Flöte zu spielen. Eine melancholische Melodie erklang. Kannst du nichts Lustigeres spielen? fragte der Hirtenjunge etwas herablassend. Nein, nicht mehr, entgegnete der Reiter, denn ich vermisse meine Geliebte. Du hattest eine Geliebte? fragte der Knabe ziemlich überheblich. Was ist denn mit ihr? Pan zeigte auf seine Flöte und antwortete ganz traurig, Das ist alles, was mir von ihr geblieben ist. Wie meinst du das? wollte der Knabe wissen. Die ist ja nur aus Schilfrohr. Ja, genau, entgegnete der Fremde.
Wieder spielte er auf seiner Flöte die traurige Melodie von vorher. So wirst du deine Geliebte nicht finden, meinte der Hirtenjunge spöttisch. Du hast ja dafür dein Ziegenschaf oder wie das Tier heisst, auf dem hockst. Das ist keine Ziege und auch kein gewöhnliches Schaf, sondern ein Mähnenschaf, antwortete der Reiter. Ein was...? fragte der Junge. Ein Mähnenschaf oder ein Mähnenspringer, es kommt von weit her, kein Wunder, dass du noch nie eines gesehen hast, aber du scheinst immer noch nicht zu wissen, wer ich bin, meinte der Fremde. Doch ich weiss es, ... du bist eine Missgeburt, wollte der vorlaute Bursche noch sagen. Doch hielt er etwas erschrocken inne, als er in das Gesicht des Reiters blickte und auf der Stirn zwei wulstartige Ausbeulungen erblickte, die ihm ziemlich unheimlich vorkamen. Sind das Hörner? fragte er sich. Langsam begann er sich doch etwas vor diesem seltsamen Wesen zu fürchten. Wer bist du denn? fragte er ziemlich kleinlaut. Pan, antwortete das Wesen, und du? Daphnis, entgegnete der Junge etwas unsicher.
Ich kannte auch einen Daphnis, aber das ist lange her, sehr lange, in einer anderen Zeit, da spielte ich noch fröhliche Lieder und solche Hirtenjungen wie du, wussten genau, wer ich war. Sie fürchteten gar meinen Anblick, denn wenn man mich in den heiligen Mittagsstunden störte, konnten unangenehme Dinge geschehen. Der Hirtenjunge erschrak, denn er hatte gar nicht auf seine Tiere geachtet. Diese waren unruhig geworden und begannen in alle Richtungen davonzulaufen. Aufgeregt liess er seinen Besucher stehen oder besser gesagt sitzen und machte sich daran die Herde mit viel Mühe wieder zusammenzutreiben. Die Tiere beruhigten sich, doch das seltsame Wesen samt seinem Reittier war verschwunden. Der Wind strich sanft durch das Laub der Bäume und es war dem Jungen so, als hörte er dabei die leisen klagenden Klänge der Panflöte.
Auf dem Bild von August Ostermann sitzt der Hirtengott Pan immer noch auf seinem Mähnenschaf. Es ist auf das Jahr 1914 datiert. Natürlich liegt der Gedanke nicht fern, dass es etwas mit den apokalyptischen Ereignissen des Ersten Weltkrieges zu tun hat, die Europa und die ganze Welt in einen alptraumhaften Abgrund rissen. Zumindest kann man sich vorstellen, dass Pan dem Hirtenknaben wie in einem fantastischen Tagtraum erschienen war. Mythologie, Fantasie und Imagination zeichnen den Symbolismus aus, einen prägenden Malstil dieser Zeit. Aber warum hat Ostermann das Mähnenschaf als Reittier für Pan ausgewählt? Dieses Tier stammt aus Nordafrika und dürfte in Griechenland kaum bekannt gewesen sein. Vielleicht hat es der Maler in einem Zoo gesehen und wurde durch die eindrücklichen Hörner und die ziegenartigen Hinterbeine an den Hirtengott erinnert. Seltsamerweise deutet er aber bei Pan die Hörner nur als Wülste auf der Stirn an und ist auch bei einem anderen oft geradezu grotesk dargestellten Körperteil des Hirtengottes, der ja auch wegen seiner erotischen Eskapaden bekannt ist, sehr zurückhaltend.
Über August Ostermann findet man kaum Angaben. Er ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geboren und hat ungefähr bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts gelebt. Ein zweites bekanntes Bild von ihm ist auf das Jahr 1937 datiert. Es zeigt eine Bäuerin mit einem Ochsenkarren. Von der Maltechnik sieht man Gemeinsamkeiten mit dem beschriebenen Bild. Obwohl später gemalt ist es vom Stil her ein Rückgriff auf den Realismus des 19. Jahrhunderts. Bemerkenswert beim Bild mit dem Hirtengott ist auch der Rahmen. Er erinnert an ein Säulenportal mit korinthischen Kapitellen und einem nach aussen geschwungenen Architrav. Bei der linken Säule ist der Sockel herausgebrochen. Es ist so, als ob man durch dieses Portal in die geheimnisvolle Welt der alten Griechen blicken würde, wo Pan mit klagenden Melodien seiner Syrinx nachtrauert, die sich aus panischer Angst vor ihm in ein Schilfrohr verwandelte. Das exotische Mähnenschaf hört ihm dabei nachdenklich zu.