05 Apr
05Apr

Wenn ich mich richtig erinnern kann, war diese Skulptur einmal auf einer Verkaufsplattform ausgeschrieben und wurde dann auch verkauft. Leider hatte ich sie verpasst. Der neue Besitzer schrieb sie aber wieder aus. Ich konnte ihn kontaktieren und wir einigten uns auf einen Preis und machten auch gleich einen Abholtreffpunkt auf einer Autobahnraststätte ab. Der Verkäufer kam zuverlässig zum vereinbarten Zeitpunkt. Die Skulptur war in Ordnung und wir konnten unseren Handel abschliessen. 

Seither gehört dieses bemerkenswerte Werk zu meiner Sammlung. Immer wieder, wenn ich diese Bronze betrachte oder gar in die Hand nehme, komme ich nicht umhin ihre ausserordentliche Ausstrahlung zu bewundern. Betrachte ich sie von vorne sehe ich in ihr eine geschmeidige Gestalt, die sich mit dem linken Arm auf einem hohen Sockel abstützt, der fast ganz mit der Figur verschmolzen ist. So roh und zerklüftet, wie grob aus einem Stein gehauen, die Gestalt wirkt, entfaltet sie im Auge des Betrachters in ihrer dynamischen fast tänzerischen Pose eine anmutige Eleganz. 

Der Kopf ist zur Seite gewandt. Der Blick in scheinbarer Erwartung nach hinten gerichtet. Unaufgeregt, entspannt und gelassen verharrt die Gestalt in ihrer lockeren Stellung. Das rechte Bein scheint leicht angewinkelt. Kommt sie oder kommt sie nicht? Einerlei, dann kommt halt eine andere. Ich warte noch etwas. Es pressiert nicht. Selber schuld, wenn sie mich verpasst. Aber lange warte ich nicht mehr. Sie soll nicht meinen, dass es mir etwas ausmacht. Daran verschwende ich keinen Gedanken. 

Von hinten wirkt die Figur fast zerbrechlich, unsicherer, beide Arme auf dem Sockel abgestützt, wie um Halt zu finden, etwas nach vorne gebeugt. Der Kopf leicht gesenkt, fast lauernd. Eine Ambivalenz in der Haltung wird sichtbar, die vordergründige Selbstsicherheit schwindet. Eine ungeduldige Unruhe offenbart sich. Hat sie mich vergessen? Lässt sie mich mit Absicht etwas warten? Nun sind es schon mehr als zehn Minuten. Soll ich noch länger warten. Ist etwas dazwischengekommen? 

Von der Seite her betrachtet, wirkt die Gestalt statisch, wie aus einem Block, nur der zur Seite gedrehte Kopf hebt sich ab. Stumm, in Gedanken versunken. Der Reiz an dieser Figur ist ihre Ambiguität, sie lässt dem Betrachter viel Spielraum in seiner Wahrnehmung, legt ihn nicht fest. Lässt sich auf ein Wechselspiel mit ihm ein, regt die Fantasie an. Wenn man sie länger betrachtet, scheint sie ein Eigenleben zuentwickeln. Man spürt ihre Interaktion mit dem Gegenüber, fühlt sich einbezogen in einen Dialog. Doch sie legt sich nicht fest, entzieht sich der Deutung. Wie bei meiner Skulptur von Milani entfaltet sich die künstlerische Dimension dieser Bronze von Paul Louis Meier erst im Auge des Betrachters. Nicht ästhetische Vollkommenheit sondern ihre vielschichtige Aussagekraft erhebt sie zu einem Kunstwerk, das den Vergleich mit klassischen Idealen nicht zu scheuen braucht. 

Als ich begonnen habe Skulpturen zu sammeln, war ich noch begeistert von Bronzen aus der Zeit des Jugendstils. Doch diese sind bei mir längst verschwunden. Sie machten Platz für Werke von Michael Grossert, Umberto Milani, Peter Travaglini, Michel Engel, Thomas Blank, Freddy Air Röthlisberger und eben Paul Louis Meier. Geblieben sind afrikanische Figuren, eine Skulptur von Moreau, und einige Barockskulpturen. Soweit ich mich auf Verkaufsplattformen nach Skulpturen umsehe, finde ich heute nur äusserst selten Werke, die für mich einer eingehenderen Betrachtung würdig sind. Erstaunlicherweise sind es dann gar nicht unbedingt die teuersten und oft auch nicht die begehrtesten Arbeiten, die mein Interesse wecken. 

Paul Louis Meier (∗ 16.6.1950 Luzern) gehört zu den bekannten zeitgenössischen Schweizer Künstlern. Auf Sikart ist er gemäss seiner Bedeutung ausgiebig dokumentiert. Seine Tätigkeitsbereiche umfasst Druckgrafik, Kunst im öffentlichen Raum, Lithographie, Skulptur und Zeichnung. 

Quelle: Sikart

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