Radierung
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Beim ersten Hinsehen scheint es sich bei dieser Radierung in unserem Angebot einfach um eine Familie mit Mutter, Vater und fünf Kindern zu handeln. Die Mutter in der Bildmitte hält einen Säugling liebevoll an ihre Brust gedrückt. Rechts daneben lehnt sich ein Mädchen, vertrauensvoll an den Vater, den linken Arm um seinen Hals gelegt. Diesen Moment scheint der Mann mit geschlossenen Augen in kontemplativer Entrücktheit zu geniessen. Aber dieses Bild der harmonischen Familie wird etwas gestört von den anderen Kindern. So versucht ein pausbäckiger kleiner Bursche auch noch etwas von der mütterlichen Fürsorge abzubekommen, indem er sich an den Säugling anschmiegt. Während das an den Vater angelehnte Mädchen mit offenen Augen träumerisch, gedankenverloren ihre Bevorzugung auszukosten scheint, zeigt der erregt flammende Blick eines anderen Kindes mit zerzaustem Haar auf der linken Seite, dass es sich vielleicht ausgeschlossen fühlt. Möglicherweise zeigt es sogar mit einem Finger anklagend auf die Eltern. Will wissen, warum es zu kurz kommt. Nur noch halb im Bild ist das Gesicht eines weiteren Kindes, dessen Blick ebenfalls ein gewisses Missfallen zum Ausdruck bringt. Über der ganzen Szene schwebt nochmals der stark vergrösserte Kopf der Mutter, eine Art Übermutter, die über die Familie zu wachen scheint. Auffallend in diesem Bild ist die deutliche Diskrepanz zwischen harmonischer Nähe und schmerzhafter Distanz. Soll die Übermutter vielleicht zum Ausdruck bringen, dass die scheinbar Ausgeschlossenen nicht lange unter ihrer Zurücksetzung leiden müssen, dass sie auch an die Reihe kommen und ihre Streicheleinheiten einfordern können?
Beinahe hätte ich ihn verwechselt, denn es gibt einen anderen italienischen Künstler mit dem Namen Vittorio Morello, der auf Artprice verzeichnet ist. Schnell habe ich bemerkt, dass das kleine i im Namen nicht einfach ein Lesefehler aufgrund der schlecht lesbaren Signatur war. So recherchierte ich nochmals unter dem Namen Vittorio Moriello und wurde auch fündig, allerdings allein auf youtube unter «Vittorio Moriello, scultore pittore e grafico». Da bin ich auf alle nützlichen Informationen über diesen Künstler gestossen. Hier wurden auch andere zeichnerische Arbeiten gezeigt, die es nahelegen, dass unsere Radierung von diesem Künstler stammen muss. Die Seite wird redigiert von Leandro Moriello, der vermutlich ein Sohn oder ein naher Verwandter des Künstlers ist. Alle Informationen über das Leben von Vittorio Moriello stammen von diesem youtube Beitrag.
Im Video auf youtube werden also noch weitere zeichnerische Arbeiten vorgestellt: Paare in erotischer Umarmung, ein anderes Familienbild, etwas harmonischer hier, die Mutter mit blosser Schulter und viel Hingabe zu einem Baby in ihren Armen, der Vater in Anzug und Krawatte, etwas distanziert, ein kleines Kind, von einer magischen Hand festgehalten, ein weiteres Kindergesicht daneben. Diese Figuren strahlen eher Gelassenheit aus, nichts Aufgeregtes, aber irgendwie fehlt die familiäre Verbindung.
Moriello kannte sich in der klassischen Bildhauerei aus. In seinen eigenen Arbeiten, die gezeigt werden, scheint er diese Epoche zu parodieren. Seine Skulpturen sind im klassischen Stil gearbeitet, aber statt idealer Schönheiten schafft er bizarre doppelköpfige Wesen oder zum Beispiel die Büste einer Dame mit überlangem Hals, überweit abfallenden Schultern und offenem Busen. Eine Art Januskopf in Bronze mit unterschiedlichen Zügen in den beiden Gesichtern ist mir auch nicht entgangen.
In den Ölbildern gibt es stilistische Anspielungen an die Renaissance, an Michelangelo oder Botticelli. Immer wieder scheint Moriellos künstlerisches Interesse um die Familie zu kreisen. Aufgefallen ist mir hier ein geradezu fantastisches, traumhaftes Bild. Ein Elternpaar mit einem Säugling in den Armen der Mutter auf der linken unteren Seite, in der Mitte daneben zwei Kinder, eines wie ein kleiner nackter Gnom mit übergrossen Ohren und ein anderer Junge der sich auf allen Vieren abstützt. Weiter hinten sitzend wieder eine Frau mit einem Kind. Rechts daneben hat ein Grosselternpaar Platz genommen, die Frau mit einem Blumengebinde auf dem Schoss, der alte Mann auf seinem Stock abgestützt. In der Bildmitte ein scheuendes dreiköpfiges Pferd aus dessen Hinterteil eine weibliche Figur herauszuwachsen scheint, die von einem doppelköpfigen Mann mit blossem Oberkörper umschlungen wird. Den Abschluss macht ein weiteres Paar, eng umschlungen, die Frau in wallendem Kleid, schwebend, just unter dem Mond platziert.
Vittorio Moriello (1941 – 2000) entwickelte sich im Laufe seines Lebens vom Bildhauer zum Grafiker, Maler und Keramiker. Als Restaurator war er als Experte für klassische Bildhauerei tätig. Er erhielt auch Aufträge aus dem Ausland. 1989 schuf er ein Plakat für die Ausstellung Pius IX in Pompeji. In Neapel konnte er 1995 12 Tafeln für den Kreuzweg ausstellen. Ein Jahr später beteiligt er sich zusammen mit dem Dichter Gino Fiore an einer Ausstellung in Rom. Noch im Jahre 1999 arbeitete Vittorio Moriello unermüdlich und fühlte sich auf dem Höhepunkt seines künstlerischen Schaffens. Durch seine Teilnahme an zahlreichen Ausstellungen in Italien und im Ausland wuchs sein Ansehen als Künstler stetig.